Bei dem Wort „Ghetto“ denkt man zuerst an ärmliche und ausgegrenzte Stadtviertel. Manche kennen auch den berühmten Song von Elvis Presley „In the Ghetto“, der über das aussichtslose Leben eines jungen Mannes in Chicago handelt. Zudem kann das Wort auch an Verfolgungen, Leiden und Vernichtung erinnern. Trotzdem weiß man oft nicht, wo eigentlich das erste Ghetto entstand und was das Wort bedeutet?
Es kann überraschend sein, dass sich das Wort Ghetto von dem italienischen Wort „gettare“ ableitet und „gießen“ bedeutet. Dieser Hinweis führt uns auch schon zu unserer Antwort, denn das erste Ghetto entstand in Italien, genauer gesagt in Venedig im 16. Jahrhundert. Dort wurde ein jüdisches Viertel vor ungefähr 500 Jahren auf dem Grundstück einer ehemaligen Gießerei für Kupfer- und Eisenherstellung im Stadtteil Cannaregio errichtet.
Am 29. März 1516, beschloss der Senat der Republik Venedig alle Jüdinnen und Juden der Stadt in ein geschlossenes Wohngebiet zu sperren. Es war durch Kanäle vom Rest der Stadt abgetrennt und konnte nur durch kleine Brücken betreten werden. Die Lage dieses Teiles der Stadt, nahe den venezianischen Gefängnissen und dem Massengrab für exekutierte Verbrecher, war sehr unwirtlich und hatte durch seine Unbeliebtheit kaum Wohnwert für die Venezianer.
Aber warum wurde dieses Ghetto geschaffen? Ganz einfach weil die unbekannten jüdischen Bräuche den christlichen Venezianern Angst machten. Sie fürchteten, dass dadurch Epidemien wie die Pest, Feuersbrünste oder Stürme ausgelöst werden könnten.
Zur Sicherheit grenzten sich die Venezianer lieber davon ab. Deshalb wurden abends die zwei Tore zum jüdischen Viertel verschlossen und ein Wachdienst patrouillierte um die kleine Insel bis zum morgendlichen Klang der Marangona-Glocke von San Marco.
Die Bewachung musste durch die jüdischen Einwohner, die überwiegend Pfandleiher und Kaufleute waren, bezahlt werden. Auch durften sie das Ghetto nur verlassen, wenn sie sich durch ihre Kleidung als Juden kenntlich gemacht hatten.
Das Viertel hieß also schon vor dem Zuzug der Juden „Ghetto“ und dieser Name wurde bald zum Inbegriff der Ausgrenzung in allen europäischen Sprachen. Aber trotz dieser gewollten Distanzierung wurden Übergriffe auf die jüdischen Bewohner in Venedig bestraft und somit ihre Rechtssicherheit garantiert. Deshalb flohen in Zeiten der spanischen und portugiesischen Judenverfolgungen viele ins sichere Venedig.
Aufgrund des beginnenden Platzmangels wurde das „Gheto Novo“, das erste Ghetto, auf das benachbarte „Gheto Vecchio“ und schließlich auf das „Gheto Nuovissimo“ ausgeweitet. Von 700 Familien wuchs das Ghetto auf über 5000 Einwohner an und wurde bald eine Stadt in der Stadt, die sich selbst verwaltete und versorgte. Den Bewohnern blieb nichts anderes übrig, als die Wohnhäuser bis zu acht Stockwerke aufzustocken und diese „Wolkenkratzer“ waren eine Seltenheit im damaligen Venedig.
1797, als napoleonische Truppen Venedig eroberten, wurden die Tore des Ghettos entfernt. Aber die österreichischen Truppen führten danach erneut Beschränkungen für die Bewohner ein und die italienischen Juden erlangten erst bei der Gründung des Königreichs Italien 1866 ihre rechtliche Gleichstellung.
Heute leben nur noch wenige jüdische Familien in diesem Viertel, aber die Besichtigung des jüdischen Museums und der fünf Synagogen bietet dem Besucher Venedigs eine besondere Gelegenheit, diese unerwartete Seite der „Serenissima“ zu entdecken und zu verstehen.